Zum Jahrestag an das Trommeln in der Erlöserkirche veröffentlichte PNN-Journalistin Jana Haase einen Artikel zu Tierra Unida und Jeanne Grabner. Zudem gab es eine Veranstaltung in der Erlöserkirche, an der auch Mitglieder von Tierra Unida teilnahmen.
Brandenburger Vorstadt – Am ersten Abend waren sie nur zu zweit. Schlugen die Trommel, eine einfache Felltrommel, in der Erlöserkirche im Herzen der Brandenburger Vorstadt. „Wir haben keine Minute, keine Sekunde geschlafen“, erinnert sich Jeanne Grabner. Es war eine Totenklage, die schon bald ihr Publikum fand. Worum es Grabner und ihren Mitstreitern vom oppositionellen Arbeitskreis Tierra Unida ging, war damals in der Kirchentür auf einem Bettlaken zu lesen: „Wir trauern um die Opfer in China. Wir schlagen die Klagetrommel.“ Drei Wochen waren vergangen seit dem Massaker an den Aufständischen in Peking, als in Potsdam am Abend des 28. Juni 1989, die dreitägige Trommelaktion begann. Schon am ersten Morgen kamen Anwohner, stellten Blumen vor der Kirche ab, erzählt Jeanne Grabner. Die Nachricht machte schnell die Runde, immer mehr Menschen wollten dabei sein. Die Trommler wechselten sich schon bald im Stundentakt, später im Viertelstundentakt ab. Irgendwann zerbrach der Klöppel und wurde ersetzt.
Eigentlich wollte Grabner Lehrerin werden
20 Jahre alt war Jeanne Grabner damals. Gemeinsam mit Freunden wohnte sie in einem besetzten Haus am Heiligen See, studierte Musik und Deutsch, wollte Lehrerin werden – obwohl ihr als Oppositionelle eigentlich klar war, dass das in der DDR nicht funktionieren würde. Aber es sollte ohnehin alles anders kommen. Wie anders – und vor allem wie schnell – das sei im Juni aber noch nicht absehbar gewesen, erzählt Grabner heute: „Wir hatten das Gefühl von Trauer und Angst und dass wir uns für eine längere Zeit wappnen müssen mit Mut und Geduld.“
Ein Weg, das Land zu ändern
Im Westfernsehen hatten sie und ihre Mitstreiter von der Gewalt in China erfahren: „Wir waren verzweifelt“, erinnert sich die 50-Jährige. Das brutale Vorgehen gegen Andersdenkende traf die Potsdamer Jugendlichen ins Mark. Im Arbeitskreis Tierra Unida hatten sie seit der Gründung 1983 über eine gerechtere Welt diskutiert und dabei viel von Nicaragua gesprochen, aber eigentlich doch immer auf die Zustände in der DDR gezielt: „Wir suchten einen Weg, wie wir dieses Land ändern können“, fasst es Jeanne Grabner zusammen. Das fand zunächst in den Räumen der Erlösergemeinde statt, deren Pastoren – insbesondere der 2016 verstorbene Martin Kwaschik – dem oppositionellen Arbeitskreis die Türen geöffnet hatten. Immer öfter wagte sich die Gruppe aber auch auf die Straße, zu originellen Aktionen, getrieben vom politischen Engagement ebenso wie von Lebensfreude: Sei es bei Tanz mit Straßenmusik oder Spendenaktionen, zum Beispiel mit Schuheputzen auf der heutigen Brandenburger Straße. Solche „Auftritte“ wurden stets misstrauisch beäugt von der Polizei, die immer wieder auch eingriff. Trotzdem war so etwas wie Zuversicht bei den Jugendlichen gewachsen. Bis zum Massaker in Peking: „Das hat uns in Schockstarre versetzt – und dann zum Handeln herausgefordert“, sagt Grabner.
Bekannte als Sicherheitsnetz
Die Idee für die Trommelaktion stammte damals aus Berlin. Als Jeanne Grabner davon hörte, waren die Berliner schon kurz vor dem Abschluss. Die Potsdamer wollten den Faden aufnehmen, die Trommel weiterklingen lassen. Innerhalb nur eines Tages sei alles Notwendige organisiert worden. Dazu gehörte nicht nur die Erlaubnis der Erlöser-Pfarrer und ein Bettlaken, sondern auch eine Art Sicherheitsnetz für den Fall der Fälle: Einige Bekannte wurden eingeweiht – Menschen „die nach uns krähen, wenn etwas passieren würde“, erklärt Jeanne Grabner.
Manfred Stolpe kam im Schlafanzug
Tatsächlich war die Polizei vor Ort, in die Kirche kam sie aber nicht. Als die Polizisten das in der zweiten Nacht doch wollten, habe der aus dem Bett geklingelte Manfred Stolpe, damals noch Konsistorialpräsident der evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg, die Lage persönlich entschärft – „im Schlafanzug“, wie sich Jeanne Grabner erinnert. Dass auch in der Kirche und sogar unter den Trommlern Stasi-Informanten waren, erfuhr sie erst viel später beim Lesen ihrer Stasi-Akte. Außer den Trommelschlägen gab es regelmäßig kurze Andachten. Auch ein Gedicht, das Grabners Mutter, die Schriftstellerin Sigrid Grabner, für den Anlass geschrieben hatte, wurde immer wieder verlesen: „Ich trommle / den Mut der Studenten auf dem Tienanmen / das Entsetzen der Soldaten / die Schreie der Sterbenden / die Verzweiflung der Fliehenden / die Seufzer der Gedemütigten /das Weinen der Mütter“, hieß es darin unter anderem. Zum Abschlussgottesdienst sei die Kirche „gerammelt voll“ gewesen, erinnert sich Jeanne Grabner. Die Trommel sei danach nach Magdeburg weitergereicht worden.
Für die Jugendlichen war es ein Erfolg: „Weil wir das Gefühl hatten, wir haben was gesagt zu China“, erklärt Grabner: „Wir haben gewaltlos für politische Teilhabe gekämpft.“
Grabner wurde exmatrikuliert
Und das sollte nur ein Auftakt sein. Grabner wurde kurz nach der Trommelaktion exmatrikuliert – vorerst. Und dann ging alles wie im Flug. Die 20-Jährige war – gemeinsam mit Mitstreitern von Tierra Unida und aus der Kirche – auch eine der Organisatorinnen der ersten großen Demonstration in Potsdam am 7. Oktober 1989. Angst habe sie da immer noch gehabt – und die Demo wurde am Ende von der Polizei auch gewaltsam beendet. Aber gleichzeitig beschreibt sie auch „ein brausendes Glücksgefühl“, das sie ergriffen habe, als sie so viele gleichgesinnte Menschen sah, die für Veränderung friedlich auf die Straße gingen.
Der Wendeherbst bedeute für sie „eine ganz große Öffnung im Leben, eine ganz große Erfüllung“, sagt Grabner heute. Am Tag nach der Währungsunion, dem 2. Juni 1990, machte sie sich auf den Weg nach Mittelamerika. Und sah endlich die Länder, über die sie so lange bei Tierra Unida gesprochen hatte. Sieben Jahre sollte der Aufenthalt dauern, Grabner lebte unter anderem in Nicaragua und Spanien. „Das brauchte ich auch, um mich zu befreien von dieser DDR-Kiste“, sagt sie heute, wo sie mit ihrer Familie in Berlin lebt und als Geschäftsführerin bei einem sozialen Träger arbeitet: „In Mittelamerika bin ich Europäerin geworden und als solche zurückgekommen.“
Foto und Artikel: PNN